20.06.: Das Jahr 2006 ist für unsere Familie ein Jubiläumsjahr. Zunächst gab es den 10. Hochzeitstag zu feiern. Was liegt näher, als zum Anlass das Hochzeitsvideo hervor zu kramen und noch einmal anzusehen. Nostalgischer Rückblick, Erinnerungen an das erste Kennenlernen, das Werben um Judit, das Zusammenziehen in eine gemeinsame Wohnung, gemeinsame Reisen und Ausflüge, der Entschluss, die gemeinsame Beziehung mit einem Hochzeitsfest mit Verwandten und Freunden zu verfestigen. Das Hochzeitskleid verzauberte Judit noch mehr, beim Kauf legten wir darauf Wert, dass das Kleid nicht zu bauschig ist, denn ich sollte ja mit meinem Rollstuhl nahe genug an sie herankommen. Die Kirche war bumvoll, das Video verewigte die Tränen in den Gesichtern so mancher Gäste, dem Schwiegervater versagte bei den Fürbitten die Stimme, Nicole, Judits Schwester, sang mit Freunden das Ständchen „Love and Marriage“. Katharina beobachtete die Videoaufzeichnung ganz genau. „Warum weint der Opa?“, fragte sie als erstes. „Weil er sich so freute“, erklärte Judit. „Und wo bin ich da?“, wollte Katharina wissen und berührte damit einen heiklen Punkt, denn auch schon damals war unser Kinderwunsch sehr groß. „Du warst noch nicht auf der Welt“, meinte Judit, „dich haben wir erst viel später bekommen. Aber wir haben schon gewünscht, dass es dich bald gibt.“ Katharina verfolgte fasziniert das weitere Geschehen. Das Eheversprechen von uns beiden, mein Herzklopfen glaubte ich beim Ansehen des Videos tatsächlich zu hören. Als ein kleines Baby in der Kirche weinte, unternahm Katharina noch einen Vorstoß: „Bin das ich?“, fragte sie. „Nein“, sagte Judit und umarmte ihre Tochter. „Du warst leider noch nicht auf der Welt. Wir haben dich aber ganz, ganz lieb, du gehörst zu uns!“ Die geplante Jubiläumsfeier fiel leider im April wegen des Alltagstrubels aus, es fehlte die Zeit der Planung und der Vorbereitung. So stießen wir nur zu dritt mit Apfelsaft auf unsere Ehe und die Familie an und freuten uns über die zahlreichen Anrufe und Glückwünsche. Bereits im Juni gab es den nächsten Grund zu feiern: der Papa wurde 40 Jahre jung. Aus meiner Sicht nicht unbedingt ein Anlass für eine große Party, sondern eher ein Zeitpunkt für einen inneren Rückblick und einen möglichen Ausblick auf die nächsten Jahre. Judit sah dies anders und organisierte kurzer Hand ein großes Fest: Mit dem Inigo wurde nicht nur ein kleines, nettes Lokal angemietet, sondern ein Sozialprojekt der Caritas für Langzeitarbeitslose unterstützt.
Zweihundert Postkarten wurden gedruckt, ein Freund von uns entwarf die Einladung, mit 40 Konterfeis des Jubilaren im Andy Warhol-Stil. Zahlreiche Emails wurden verschickt und ein eigenes Video mit TV-Auftritten von einst bis heute zusammengestellt. Als Katharina das Video sah, fragte sie: „Wo bin da ich?“ Judit und ich sahen uns zerknirscht an, das hätten wir bedenken müssen.
Zum Fest erschien eine bunte Mischung an Gästen, Katharina saß bei der Begrüßung stolz am Rollstuhl bei ihrem Papa. Dann drückte sie mir ihre Puppe in die Hand und verschwand in die Spielecke. Meine Kollegen aus dem Bildungsministerium zeigten als Geschenk ihr Video, Nicole spielte am Klavier, die lernbehinderte Schriftstellerin Michaela König las unter großem Beifall Gedichte vor. Damit wurde auch von mir die Idee zum Literaturpreis „Ohrenschmaus“ für lernbehinderte Menschen vorgestellt. Die Geburtstagsgäste spendeten eifrig für das erste Preisgeld (nähere Informationen: www.franzhuainigg.at). Judit hielt eine bewegende Rede und Boris, ihr Bruder, inszenierte in einer schauspielerischen Darstellung meine Reden als Politiker im Parlament. Der Höhepunkt bestand aus vier Geburtstagstorten mit vierzig Kerzen, gebacken von meiner Schwiegermutter Marie-Luise. Der eigentliche Höhepunkt sollte danach kommen: Katharina wollte für Papa ein Lied singen, den Text hatte sie selbst kreiert. Denn der normale Liedtext lautete: „Papa, schön, dass du da bist, schön, dass es dich gibt. Papa, wir glauben alle, dass Jesus dich sehr liebt.“ Katharina dichtete die zweite Zeile in: „Papa, wir wissen alle, dass du dich sehr liebst.“ Ein wahres Wort von meiner vierjährigen Tochter. Leider fehlte ihr spät abends der Mut oder die Energie, das Liedchen mit Mikrofon auch vorzusingen.
Natürlich gab es in letzter Zeit zahlreiche nette Erlebnisse mit Katharina. Einmal trafen wir eine Freundin von uns, welche eine sehr schwer behinderte Tochter hat. Katharina beobachtete Nora sehr aufmerksam und half ihr schließlich beim Mittagessen, indem sie Nora von ihrem Essen etwas abgab. Dies stellte für Katharina eine Sonderleistung dar, da sie selbst gerne und viel isst. Als wir Wochen später eine andere Freundin mit auch einer Tochter trafen, fragte Katharina im Vorfeld: „Ist die Lea behindert?“. Mich überraschte diese Frage, da sie zum ersten Mal gestellt worden ist. „Nein“, sagte ich, „die Lea ist nicht behindert“. Katharina darauf: „Aber die Nora ist behindert“. Ich stimmte zu und fragte, „Was ist behindert, Katharina?“. Darauf gab sie keine Antwort, aber offensichtlich beschäftigt sie auch dieses Thema. Im Kindergarten, berichtet die Tante, dass Katharina besonders hilfsbereit ist, vor allem zu den kleineren KollegInnen.
Immer wieder trifft sie ihre Freunde Derman und Ferman. Als sie gemeinsam mit Judit unterwegs waren, rief plötzlich Ferman: „Schau, ein Neger. Ein schmutziger Mann!“ Derman und Katharina lachten. Judit war entsetzt. „Aber Katharina, ist deine Puppe Lelli auch schmutzig?“, fragte sie. „Nein, die ist braun.“ sagte Katharina. „Und deine Freundin, die Bilgisu, ist auch schmutzig?“. Katharina lacht, „Nein! Die ist nicht schmutzig. Die ist auch braun!“. Daraufhin erklärte Judit allen drei Kindern, dass manche Menschen eben eine dunklere Hautfarbe haben. Das ist kein Grund mit dem Finger auf sie zu zeigen, zu lachen oder gar auszuspotten. Da bei solchen Erklärungen immer fraglich ist, ob sie von den Kindern auch gut angenommen werden, war Judit über ihre nachhaltige Pädagogik sehr froh. Denn in dieser Situation hatte Katharina zwar mit den anderen Kindern mitgelacht aber ihren Fehler rasch eingesehen. Seit zwei Jahren hat sie eine dunkle Puppe, die Lelli, die sie herum trägt, umzieht, mit der sie Baby spielt und mit der sie im Arm am Abend einschläft. Auch eine ihrer Lieblingsfreundinnen stammt aus Afrika, mit Bilgisu hat sie immer großen Spaß und tanzt mit ihr durch die Gegend. Kein Geburtstagsfest ohne Bilgisu.
Zu berichten wären auch die Weberknechte, die Katharina faszinieren und die sie immer und überall entdeckt. Ich wusste selbst nicht, dass es so viele Weberknechte in der Welt gibt.
Noch mehr scheint es aber Schokolade auf diesem Planeten oder zumindest in unserer Wohnung zugeben. Katharina entdeckt sie, wo immer wir sie verstecken. Als sie wieder einmal ein Lager entdeckte, forderte unser Aupairmädchen Svetlana sie auf, aus der Küche zu gehen, damit sie die Schokolade woanders verstecken kann. Katharina folgte zögernd aber gehorsam – um kurz darauf den Kopf in die Küche zustecken. Als Svetlana mit ihr schimpfte und sagte: „Du musst raus gehen, sonst kann ich die Schokolade nicht verstecken“, sagte Katharina: „Aber ich habe es rascheln gehört!“ Und natürlich war sie gleich hilfreich zur Stelle.
Jeder Tag endet im Leben unsere Tochter mit einer Gute-Nacht-Geschichte. Judit las ihr dieser Tage die biblische Geschichte des Hirten vor, der ein Schaf verliert. Und obwohl er noch 99 andere Schafe besitzt, zieht er los um das eine Schaf zu finden. Judit erklärte ihr, dass der Hirte jedes Schaf gleich lieb hat. Katharinas Überlegungen gingen in eine andere Richtung: „Ich hab ein Stoff-Pferd, da brauche ich noch 99 andere!“.