11.2.:Ununterbrochen läutet das Telefon. Einmal hebe ich ab, dann Judit oder unser Au-Pair Anna. Doch mit uns will keiner sprechen. Alle verlangen nach Katharina. „Hallo, Katharina! Weißt du, wer ich bin? Die Tante XY, kannst du dich noch erinnern? Alles Gute zum Geburtstag! Wie geht es dir?“, dann lange Pause. Katharina ist heute nicht sehr gesprächig. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, am Telefon vieles zu erzählen, scheinen sie die vielen Anrufe zu überfordern. Unterdessen fragt die Stimme am Telefon weiter: „Hast du viele Geschenke bekommen?“ … Katharina nickt … „Wie alt bist du geworden?“ … Katharina streckt drei Finger aus. „Du musst etwas sagen!“, sagt Judit, „Wir haben noch kein Bildtelefon“. Aber es freut alle, wie viele heute an Katharina denken. Mit der Post ist ein Riesenpaket aus Kärnten angekommen. Speck und Brot mit lieben Grüßen von Oma Sissi und „Opa OK“. Das freut Katharina mehr als jede Schokolade. Im Paket findet sich auch ein Kinder-CD-Player. Mit dem bunten Sound-Blaster marschiert sie in der Wohnung herum und tanzt vergnügt zum Hit „Schnappi, das Krokodil“. Musikwechsel am Mittagstisch: Von Tante Claudia hat Katharina eine Glückwunschkarte erhalten, die beim Öffnen Happy Birthday erklingen lässt.
Katharina ist davon nicht nur fasziniert, sondern hat auch beschlossen, die Kapazität der Batterie zu testen. Nach einer Stunde spielt die Karte fröhlich weiter, allerdings ist Katharina dabei müde geworden und geht mit Nonna ins Bett.
Während Katharina schläft, wird die Wohnung für das Kinderfest vorbereitet. Vor allem muss Platz geschaffen werden für die zwölf kleinen Freunde und Freundinnen, die nach dem Mittagsschlaf angesagt sind. Platz zum Spielen, Platz zum Herumhüpfen, zum Tanzen, für die Eisenbahn und für ein großes Leinentuch, das Judit mit einer Schnur quer durchs Arbeitszimmer gespannt hat. Eine besondere Überraschung, die sie sich ausgedacht hat.
Während der Vorbereitungen ist das Gesprächsthema Nr. 1 – welche Überraschung – Katharina. Die drei Jahre sind sehr schnell vergangen, staunen wir. Erinnerungen an letzte Ereignisse machen deutlich, wie groß und selbstständig sie bereits geworden ist: Die ersten Wochen ging Katharina sehr gern in den Kindergarten. Alles war neu, die Kinder begeisterten sie und die neuen Spielsachen. Doch eines Tages sagte sie, „Nein, ich mag nicht in den Kindergarten“. Einfach so, ohne Begründung. Natürlich wurde Katharina mehr oder weniger überredet und verbrachte den Vormittag wieder im Kindergarten. Zwei Wochen später hatte sie eine Grippe und musste ein paar Tage zu Hause bleiben. Danach ging es wieder in den Kindergarten und sie freute sich auch offensichtlich darauf. Da kam der Anruf von der Kindergartentante: Katharina gehe es ganz schlecht, sie liege auf dem Sofa, habe sich in eine Decke vergraben und die roten Wangen lassen hohes Fieber vermuten. Wir sollen sie doch schnell abholen kommen. Was nicht so einfach war, denn Judit war arbeitsmäßig außerhalb von Wien, ich war zu einer Untersuchung im Krankenhaus und Nonna rettete den Laden. Sie holte das todkranke Kind ab. Sobald sie den Kindergarten verlassen hatten, erwachte Katharina zu neuem Leben. Sie lachte und tanzte und redete … keine Spur von Krankheit oder Fieber. Katharina hatte offenbar gelernt, dass kranke Kinder nicht im Kindergarten sein müssen. Und wir hatten gelernt, dass unsere Tochter wirklich nicht dumm ist. Dazu gehört aber auch, dass sie es seither nie mehr getan hat.
Da war das Essen bei indischen Freunden. Katharina saß allein auf einem Sessel. Plötzlich rief Judit, „Ja hallo, hoppala, wer isst denn da mit den Fingern?!“. Katharina stocherte mit den Fingern im Reis herum und stopfte ihn sich dann in den Mund. Dir Antwort von ihr kam prompt: „Die Buben essen mit den Fingern“. Ein Ablenkungsmanöver? Nein. Wir hatten in unserem Hunger gar nicht bemerkt, dass die ganze Familie mit den Fingern den Reis zu Bällchen drückte und diese dann genüsslich aß. Hier zeigte sich uns, Katharina ist fremden Sitten und Kulturen gegenüber sehr aufgeschlossen. Die nächsten Tage versuchten wir ihr wieder das mühsame Essen mit Gabel und Löffel bei zu bringen. Mit Suppe ging dies am leichtesten.
Eines Nachmittags lag ich wieder mal auf dem Sofa und erholte mich mit meinem Mittagsschläfchen. Zumindest versuchte ich gerade, einzudösen, als Katharina ganz nah zu mir her kam, mich an der Hand zog und sagte: „Papa, geh mit mir aufs Klo!“. Augenblicklich war ich wieder hellwach. Was sollte ich tun? Auf andere verweisen, auf Nonna oder Anna …? Sollte ich Katharina sagen, dass ich nicht mitgehe? Dies gar nicht kann, da ich nicht einmal im Rollstuhl sitze? Würde sie dies überhaupt verstehen, wo sie doch immer sagt: „Du kannst gehen“? Wie lange hatte ich überhaupt noch Zeit zum Überlegen, bis die Hose nicht ohnehin nass ist? „Papa, gehst du mit mir aufs Klo?“, flehte Katharina schon sichtlich in Bedrängnis. Wie konnte ich ihr dies abschlagen! – Aber was blieb mir anderes übrig: „Ich kann nicht, Katharina“, sagte ich. „Ich kann jetzt mit dir nicht aufs Klo gehen“, wiederholte ich und es brach mir das Herz. „Na dann geh ich halt alleine“, erwiderte Katharina selbstbewusst. „Es tut mir leid“, murmelte ich enttäuscht.
Am Abend erzählte ich Judit von dem Ereignis und von meiner Unsicherheit. Sie hatte sofort die Lösung parat: „Warum hast du nicht gesagt, dass sie den Topf zu dir bringen soll? Dann wärst du auch mit dabei gewesen“. Ja, natürlich, so einfach ist das.
Judit ist überhaupt sehr einfallsreich, wenn es um pädagogische Tricks geht. Eines Morgens hatte Katharina wieder einmal großen Durst und verlangte nach Orangensaft. Von Nonna bekommt sie diesen immer unverdünnt, was die Eltern nicht gerne sehen, da Zucker nicht gesund ist und die Zähne ruiniert. Deshalb reicht Mama einen mit Wasser verdünnten Orangensaft. Ein Schluck genügt und Katharina schreit auf: „Nein! Ohne Wasser! Unverdünnt!“ Mama seufzt und versucht Katharina zu erklären, warum verdünnter Saft besser und gesünder sei. Da Katharina hierzu der vernünftige Zugang fehlt, probiert es Judit mit noch mehr Vernunft: „Also gut“, sagt sie und nimmt die Flasche von Katharina in die Hand, „ich schütte jetzt das Wasser wieder heraus“. Gesagt, getan, sie leert den halben Saft ins Waschbecken und gibt den Rest Katharina zurück. Katharina nimmt den Saft und trinkt ihn ganz glücklich, im Bewusstsein gesiegt zu haben.
Zwischen den Weihnachtsfeiertagen waren wir alle zu Hause. Jeden Abend spielt sich bei uns ein Drama ab. Zähneputzen ist für Katharina die schlimmste Tortour. Außenstehende würden bei den Schreikrämpfen anderes als Mundhygiene vermuten. Judit ist auch immer am Rande ihrer Nerven. Aber die Zähne müssen geputzt werden. Judit probiert es mit Emotionen und mit Vernunft: „Ja, willst du schlechte Zähne haben und Schmerzen und zum Zahnarzt gehen“. Katharina antwortet: „Ich will nicht zum Zahnarzt, ich will mit Papa zum Friseur.“ Tatsächlich waren Papa und Tochter schon öfter gemeinsam beim Friseur. Der Papa angesichts der zu Boden fallenden letzten Haarpracht leidend. Die Tochter frohgemut und stolz vor dem großen Spiegel. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob Katharina so viel am gemeinsamen Erlebnis lag oder ob sich nicht der himbeerrote Lutscher des Friseurs als Abschiedsgeschenk tief in ihr Gedächtnis eingegraben hatte. Lutscher oder Papa, das ist hier die Frage. Ein weiteres Erlebnis am selben Abend lässt mich doch hoffen. Ich lag am Bett im Rücken und Katharina hopste auf meinen Bauch. „Ich hab dich ganz lieb“, sagte sie und umarmte mich ganz fest um den Hals. Das lässt Vaterherzen natürlich höher schlagen …
Die Geburtstagsparty war sehr gelungen. Zwölf Kinder sprangen und tanzten durch unsere Wohnung, während die Eltern dem bunten Treiben genüsslich zusahen. Der große Hit war Judits Leinwand, auf der alle Kinder Schattenspiele vorführten. Jedes Kind spielte eine Figur oder eine Rolle, die von den anderen erraten werden musste.
Judit schnappte sich Katharina und schwang sie hinter der Leinwand hin und her, hinunter und hinauf, ein Stückchen über die Leinwand. Und alle Kinder lachten. „Was bin ich?“, fragte Katharina. Keiner erriet den Engel. Doch plötzlich wollten alle Engel sein und Judit hatte viel zu tun …