8.10.: Aufbruch in unserer Wohnung. „Wir sind schon spät dran. Beeilt euch Kinder!“, ruft Judit, „Schwester Beatrix wartet schon auf uns!“. Judit und ich haben es eilig. Unsere Kinder jedoch nicht. Elias weint, Katharina trödelt und meint, dass sie auch zu Hause bleiben möchte. Ich versuche Katharina zu überreden mitzufahren: „Schwester Beatrix freut sich schon sehr auf dich. Sie hat dich schon so lange nicht mehr gesehen. Wir dürfen sie nicht enttäuschen“. Judit entscheidet, dass Elias zu Hause bleiben soll, „er ist schon zu müde“. Assistentin Linda bleibt bei Elias. Er ist jetzt glücklich. Judit ergreift den Joystick meines Elektro-Rollstuhles und rollt mich zur Türe hinaus. Katharina folgt uns mit dem Hinweis, dass sie mitfährt, aber im Auto sitzen bleiben möchte.

Die Autofahrt führt uns, wie vor zehn Jahren ins St. Josef-Spital. Erinnerungen werden wach. Erinnerungen, die wir mit Katharina teilen wollen. Es ist ihre Geschichte und die Geschichte vom Anfang unserer Familie. Ich beginne zu erzählen, dass ich vor zehn Jahren am Lenkrad saß, als wir ins Spital fuhren. Diesmal sitzt Judit am Steuer und ich ganz hinten, festgeschnallt im Rollstuhl. Damals, 2002, war meine Behinderung noch nicht so weit fortgeschritten. Ich konnte meine Arme noch bewegen und das Auto steuern. Als ich das erzähle, wirkt Katharina gelangweilt. Ich vermutete jedoch, dass sie genau zuhörte. Mit elf Jahren muss man auf alles, was die Eltern tun oder sagen, genervt reagieren. Judit greift den Faden auf und erzählt, wie sehr wir uns ein Kind gewünscht hatten. Doch es sollte scheinbar nicht sein. Da entschieden wir uns, ein Kind zu adoptieren, besuchten einen Kurs für werdende Adoptiveltern nach dem anderen. Wir waren bald die bestausgebildeten Eltern, die theoretisch wussten, wie man Windeln wechselt, welche Konflikte es in der Familie geben kann und wie man diese löst. Nur ein Kind hatten wir noch immer nicht. Wir warteten vier Jahre lang auf einen Anruf des Jugendamtes. Gerade, als wir die Hoffnung aufgegeben hatten, läutete das Telefon in meinem Büro im Unterrichtsministerium. „Es war bereits später Nachmittag und ich war schon am Gehen. Ich überlegte kurz, ob ich noch abheben soll. Hätte ich es nicht getan, hätte ich den Anruf der Sozialarbeiterin des Jugendamtes verpasst. Sie sagte, dass sie für uns ein Kind habe. Ein Mädchen. Es ist gestern zur Welt gekommen und wir können es morgen abholen. Katharina hatte tatsächlich aufmerksam zugehört: „Hat sie auch meinen Namen gesagt?“, fragt sie. „Nein, du hattest noch keinen Namen“, erklärte ich. „Und wie ging es weiter?“, fragt Katharina. „Ich habe gleich Judit angerufen. Sie flüsterte: ‚Ruf mich später an, ich habe jetzt keine Zeit’. Ich sagte aufgeregt: ‚Du musst jetzt Zeit haben, geh raus. Wir haben ein Kind!’ Zwei Minuten später rief mich Judit wieder an und ich erzählte ihr vom Anruf des Jugendamtes. Wir waren so aufgeregt und unser Herz klopfte heftig.“ „Am nächsten Tag fuhren wir dann mit einem Brief vom Jugendamt ins Josef-Spital. Auf dem Brief des Jugendamtes stand, dass wir die ausgesuchten Eltern für das Adoptivkind sind“, erinnert sich Judit und lächelte: „Wir gaben den Brief wie einen ‚Gutschein’ an die Stationsschwester. Das war Schwester Beatrix, die wir heute treffen. Und sie schob einen kleinen Kinderwagen in den Warteraum. Es war der glücklichste Moment in unserem gemeinsamen Leben, als wir dich in den Händen hielten. Ein unglaubliches Geschenk. Du bist zu uns gekommen. Wir hatten jetzt eine Tochter!“ „Und ihr habt mir gleich den Namen Katharina gegeben?“, fragt Katharina. „Wir hatten uns eine Reihe von Namen überlegt“, erkläre ich, „aber wir wollten dich zuerst sehen, um zu entscheiden, welcher Name zu dir passt. Auf unserer Liste stand auch ‚Katharina’. Und wir mussten lachen, als auf dem kleinen Kinderbett auch derselbe Name stand. Für uns war das ein Wink des Schicksals. Du bist eine richtige ‚Katharina’“. „Dann hatte ich doch schon einen Namen?“, fragt Katharina nach. „Die Hebamme hat dir den Namen gegeben, da es komisch gewesen wäre, wenn nur auf einem Kinderbettchen kein Kindername steht“, sagt Judit, während sie das Auto auf einen Parkplatz vor dem Spital einparkt. Katharina ist jetzt scheinbar neugierig geworden – ohne weiteren Widerspruch begleitet sie uns ins Krankenhaus.

Am Tisch steht eine kleine Nachmittags-Jause. Schwester Beatrix hat sich mit ihrer Kollegin und Freundin Schwester Rosa Zeit für uns genommen. „Wir freuen uns sehr, dich wieder zu sehen!“, sagt sie zu Katharina, während sie sie fest umarmt, „weißt du, bei uns sind viele Babys adoptiert worden. Aber wir haben sie später nie mehr wieder gesehen. Wir wissen nicht, wie sie heute leben und wie es ihnen geht. Es ist so schön, dass wir dich kennen und dass du uns besuchst“. Katharina nickt verlegen. Schwester Beatrix fragt Katharina, wie es ihr in der Schule geht, wie alt Elias jetzt ist, was sie gemeinsam machen und wie sie sich verstehen. Katharina erzählt, dass sie im Herbst bereits in die zweite Klasse des Gymnasiums kommt, Englisch gefällt ihr sehr, Mathe weniger. Mit Elias versteht sie sich abwechselnd gut und auch nicht so gut. Er ist jetzt fünf Jahre, geht in den Kindergarten und erzählt immer, dass er dort auch Schularbeiten schreibt. „Eben wie die große Schwester im Gymnasium“, ergänzt Judit lachend. Schwester Beatrix bietet uns die liebevoll aufgedeckten Brote an. Wir essen, plaudern und drehen im Geiste die Uhren zurück. Schwester Beatrix erzählt Katharina, dass sie hier zur Welt gekommen ist, im blauen Kreissaal. Ob sie das gewusst hat? Katharina schüttelt den Kopf und trinkt schnell einen Schluck Orangensaft. Beim Trinken kann man ja nicht reden. Den blauen Kreißsaal will sie auch nicht sehen, obwohl es ihr Schwester Beatrix anbietet. Ich erzähle Katharina, über unser großes Glück, als wir sie das erste Mal in unseren Armen halten konnten. „Hast du mich da halten können? Waren deine Arme nicht gelähmt, wie heute?“, fragt Katharina. „Nein, damals konnte ich dich noch mit den Armen festhalten und an mich drücken“, antworte ich ihr, „Judit hat dich mir in die Arme gelegt“. „Und dann war das erste Wickeln“, erzählt Judit, „Schwester Beatrix hat uns gezeigt, wie das gemacht wird. Bisher wussten wir das ja nur theoretisch. Deine Arme und Beine waren so winzig klein und du hast immer gelächelt. Das Engelslächeln eines Babys“. „Süß“, sagt Katharina. „Ja, du warst wirklich ein süßes Baby“, sagt Schwester Beatrix, deren Handy läutet. Sie hebt ab und sagt Katharina erfreut: „Am Telefon ist Schwester Margarita. Sie war deine Hebamme. Sie war dabei, wie du zur Welt gekommen bist. Ich habe ihr erzählt, dass du heute kommst und jetzt ruft sie an und möchte gerne mit dir reden. Möchtest du auch mit ihr reden?“. Katharina nickt und greift nach dem Telefon. Sie redet eine Weile mit ihr, lächelt zwischendurch und hört gespannt zu. Als sie auflegt, fragen wir Katharina gleich, was sie gesagt hat. „Dass sie geholfen hat, wie ich aus dem Bauch meiner Mutter geschlüpft bin“, erzählt Katharina, aber mehr will sie nicht von dem Gespräch verraten, „ihr seid so neugierig“. „Neugierig waren auch alle anderen in der Familie. Als wir dich das erste Mal in den Armen hielten, klopfte es an die Tür. Und wer schaute beim Türspalt herein?“, frage ich. „Die Nonna“, lächelt Katharina, die diese Geschichte schon kennt. Schwester Beatrix kann sich auch an die Mutter von Judit und deren riesengroße Freude erinnern. „Sie hat gleich Kleider, Babynahrung, Schnuller und eine Flasche eingekauft“, sagt Judit. „Sie hat alle angerufen. Und zwei Stunden später war die ganze Familie rund um Katharina im Krankenhaus versammelt“, ergänze ich lachend, „jetzt waren wir eine richtig schöne Familie“.

Zwei Stunden später sitzen wir im Auto, auf dem Weg nach Hause. Ich erzähle Katharina, wie aufregend es damals war, als wir mit ihr aus dem Krankenhaus nach Hause zu uns gefahren sind. Ich saß damals am Steuer, das Herz klopfte mir vor Aufregung bis zum Hals und meine Hände zitterten, „hatten wir doch eine ganz wertvolle Fracht an Bord, nämlich dich“. „Zum Glück passierte kein Unfall“, lacht Katharina. „Mama hielt dich hinten in den Armen, Kindersitz hatten wir noch keinen. Waren wir doch nicht auf ein Baby vorbereitet“. Judit und ich erzählten Katharina abwechselnd, wie die ersten Tage zu Hause waren. „Ständig läutete es an der Haustür. Freunde, Bekannte und Verwandte brachten uns einen Kinderwagen, Kleider und alles, was man so braucht. Wir wussten nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war. Unser ganzer Tagesrhythmus und unser Leben richtete sich nach dir aus“. Sagt Judit, „alle drei Stunden hattest du Hunger. Aber getrunken hast du immer nur ganz wenig, 20 Milliliter, denn dann bist du eingeschlafen. Es war wirklich wunder-, wunderschön!“

Zu Hause erwartet uns bereits Elias mit der Assistentin Linda. Elias erzählt aufgeregt, dass er mit Linda bei der U-Bahn war und dass sie dort ein neues Spiel gespielt hatten: Welche U-Bahn kommt als nächstes? Ein alter oder ein neuer Zug? „und Mama, ich habe immer recht gehabt!“, jauchzte er voller Freude. „Nur einmal habe ich recht gehabt“, ergänzt Linda. Elias nickt lachend, „aber nur einmal“. Dann wendet er sich zu seiner Schwester: „Katharina, das müssen wir auch einmal spielen“. Katharina umarmt ihn: „Ja, das müssen wir auch spielen. Aber ich darf auch gewinnen“. Am Abend im Bett redet Judit mit Katharina noch über den Tag und Katharina flüstert ihr ins Ohr: „Es war ein schöner Tag, ich bin froh, dass ich mitgefahren bin!“

Schlussbemerkung: Am Ende steht der Anfang. In dieser Schlussfolge habe ich hier in der Geschichte geschrieben, was eigentlich am Beginn der Serie stehen hätte sollen. Damals wollte ich nicht über die Adoption unserer Tochter schreiben. Wir wollten diese Situation nicht den Medien darstellen. Heute kennt Katharina selbst ihre Geschichte, es war ihr gegenüber auch nie ein Geheimnis. Am Ende steht also der Anfang. Diese Folge soll allen Mut machen, ein Kind zu adoptieren oder in Pflege zu nehmen, das ist auch von Eltern mit einer Behinderung möglich.

Wie es weiter geht, … das weiß nicht einmal ich selbst. Das Leben wird es uns zeigen. Vielleicht ein neues Kind? Vielleicht ein Hund? Vielleicht eine neue Serie…?

 

Danke Peter Rudlof für die Idee zu dieser Serie. Danke den LeserInnen, die in unserem Leben mitgefiebert haben. Ich habe immer wieder zahlreiche positive Rückmeldungen bekommen. Danke!