– Rede anlässlich der Caritas Tagung im Juni 2014 in Tirana/Albanien –

Sehr geehrte Damen und Herren!

Vielfach hört man: Wenn man im Rollstuhl sitzt, ist das Leben zu Ende. Das Gegenteil ist der Fall: Das Leben im Rollstuhl ist ein Abenteuer! Nicht zuletzt durch die Unsicherheit der Menschen erlebt man derart viele skurrile Situationen, dass man ganze Kabarettprogramme damit füllen kann, was ich im Übrigen auch getan habe.

Beispielsweise bin ich mit meinem Rollstuhl immer mit der U-Bahn unterwegs. So ist es in der Früh schon immer spannend, ob der Aufzug zum Bahnsteig überhaupt funktioniert und wann ich ins Parlament komme. Auch mit den barrierefreien U-Bahn-Zügen ist das so eine Sache. Ich darf Ihnen dazu eine kleine Geschichte erzählen.

Ich bin ein sehr ungeduldiger Mensch und wenn ich in der U-Bahn auf den nächsten barrierefreien Zug warte, läuft mir die Zeit davon. Neulich bei der U3 kamen acht alte U-Bahn-Züge hintereinander, in die ich nicht einsteigen konnte. Beim achten riss mir der Geduldsfaden: „Da müssen wir hinein!“ Die Assistentin war schockiert: „Aber da ist ja eine hohe Stufe und ein großer Spalt, wie sollen wir da drüberkommen?“

Ich sagte: „Gas geben und drüberfliegen!“ Die Assistentin gibt Gas und wir fuhren mit vollem Karacho auf die Tür zu, die Vorderräder sprangen über die Stufe, mich warf der Ruck fast aus dem Rollstuhl und die Hinterräder blieben im Spalt stecken. Die Assistentin war entsetzt, ich lächelte: „Rien ne va plus, nichts geht mehr“. Da stieg der Zugführer aus und sagte: „Sind Sie lebensmüde?!“ Ich sagte: „Danke, sehr freundlich, aber ich brauch keine Sterbehilfe, sondern barrierefreie U-Bahn-Züge!“

Albaniens Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention

Albanien hat vor gut einem Jahr, im Februar 2013, die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Es geht darin um die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen an unserer Gesellschaft. Das heißt, dass beispielsweise ein Kind mit Behinderung in die Regelschule gehen kann, dass ein behinderter Mensch einen Arbeitsplatz findet, dass etwa ein gehörloser Mensch die Fernsehnachrichten in Gebärdensprache mitverfolgen kann, dass ein blinder Mensch barrierefrei Internetsurfen kann, oder auch dass es für intellektuell behinderte Menschen verständliche Texte und Informationen in Leichter Sprache gibt.

Ich bin Abgeordneter im österreichischen Parlament und setze mich als Sprecher für Behinderung und Entwicklungszusammenarbeit der Österreichischen Volkspartei für die Rechte behinderter Menschen in Österreich und in anderen Ländern ein. Das österreichische Parlament hat die UN-Konvention 2008 ratifiziert und das hat viel ausgelöst. Obwohl wir ein gut entwickeltes Sozialsystem mit Pflegegeld bis zu 1600 Euro im Monat haben, die Wahlfreiheit von Eltern zwischen Schulintegration und Sonderschule, es Förderungen bei der Inklusion in die Arbeitswelt gibt und viele Maßnahmen zur Barrierefreiheit im Alltagsleben durchgeführt werden, haben wir die Fahnenstange noch lange nicht erreicht. Der Weg ist das Ziel und das ist, wie gesagt, ein Abenteuer, von dem ich Ihnen jetzt noch ein wenig mehr erzählen möchte.

Schulische Inklusion – Recht statt Gnade

Ich bin seit einer Impfung im Babyalter an beiden Beinen gelähmt und wurde von meinen Eltern gut gefördert und behütet. So trug mich meine Mutter die ersten neun Lebensjahre immer auf ihrem Arm, Rollstuhl hatte ich keinen. Mit sechs Jahren sollte ich in die Schule kommen, wie alle anderen Kinder auch. Meine Eltern gingen mit mir zur Schuleinschreibung in die Volksschule, aber dort konnte der Direktor mit einem am Boden kriechenden Kind nicht viel anfangen. Er sagte: „Der Franzi ist ja anders, der ist ja behindert, der kann nicht in die normale Schule gehen. Da gibt es eigene Behindertenschulen in der Hauptstadt Wien“. Aber meine Eltern wollten mich nicht weggeben, sie wollten, dass ich in die Regelschule im Ort gehe. So gingen sie ein Jahr später wieder zur Schuleinschreibung mit mir. Eine Lehrerin war berührt von der Hartnäckigkeit meiner Eltern und erklärte sich bereit, es zumindest zu probieren.

Ich bekam einen eigenen ausgepolsterten Sessel und einen Teppich zum Liegen. In der Pause krabbelte ich in der Schulklasse und am Gang herum. Anfangs waren die anderen Kinder neugierig, aber bald war alles Gewohnheit. Ich wurde auch nicht ausgespottet und in der Pause spielten wir am Gang Wettrutschen. Ich war gar nicht so schlecht. Dieser gemeinsame Unterricht, das gemeinsame Lernen und Leben, war für mich lebensentscheidend. Wäre ich damals in eine Behindertenschule gekommen, hätte mein gesamter Lebensweg wohl anders ausgesehen. Wahrscheinlich hätte auch ich das Feindbild entwickelt, das viele behinderte Menschen haben, die in Einrichtungen aufgewachsen sind: wir die Behinderten und draußen die Nichtbehinderten. Daher ist es wichtig, die Eltern zu stärken und die schulische Inklusion zu fördern. Es braucht das Recht und keine Gnade!

Es waren die Eltern von behinderten Kindern, die Mitte der 1980er-Jahren, also zehn Jahre nach meinem Schuleintritt, die ersten Integrationsklassen erkämpften. Kinder mit Down-Syndrom kann man nicht einfach in eine Klasse setzen und sie sechs Stunden lang regungslos dem Frontalunterricht lauschen lassen. Das schaffen sie nicht. Intellektuell behinderte Menschen sind Sand im Getriebe des Schulsystems. Das Schulsystem war zu einer Reform gezwungen, die behinderte Kinder und ihre Bedürfnisse verursacht haben: statt Frontalunterricht offener und projektorientierter Unterricht, anschaulichere Unterrichtsmaterialien, zwei LehrerInnen unterrichten im Team, individualisierte Lehrpläne usw. Die Integrationsklasse war geboren und heute gibt es in so gut wie jeder Volks- und Neuen Mittelschule mindestens eine Integrationsklasse. Wir müssen diesen kindzentrierten Unterricht, der jetzt in einigen Inseln stattfindet, auf das gesamte Schulsystem umlegen. Von der Integration profitieren nicht nur behinderte Kinder, sondern ganz wesentlich auch nichtbehinderte Kinder. Jedes Kind soll entsprechend seinen Fähigkeiten gefördert und gefordert werden.

Studieren mit Behinderung – Man ist nicht behindert, man wird behindert!

Während meines ganzen Studiums hüpfte ich mit zwei Krücken und auf Stützapparaten an den Beinen durch die Universität Klagenfurt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits zu meinem eigenen, individuellen Lebenstempo gefunden, das bedeutend langsamer als jenes der anderen war. Die damals relativ neu gebaute Universität war eher klein und bestand aus einem Campus, also ideal für behinderte Menschen. Trotzdem waren die Wege vom behindertengerechten Nebeneingang bis zum Germanistikinstitut und dann weiter ins Vorstufengebäude, wo sich das Institut für Medienpädagogik befand, für mich sehr lange und körperlich erschöpfend. Studieren in der Hauptstadt Wien wäre jedoch wesentlich schwieriger gewesen, da die verschiedenen Institute über die Stadt verteilt sind und sich meistens in alten, schwer zugänglichen Gebäuden befinden.  Als ich gegen Ende des Studiums einen Rollstuhl bekam und damit das erste Mal durch die Universität rollte, tat ich dies mit einem breiten Grinser im Gesicht. So leicht und schnell kam ich voran, ich konnte es kaum glauben und bereute es ein wenig, dass ich nicht schon früher auf diese glorreiche Idee der Fortbewegung gekommen bin. Meine Freude wurde jedoch von niemandem, dem ich auf dieser ersten Fahrt begegnete, geteilt. Im Gegenteil: Alle waren darüber entsetzt, dass ich plötzlich im Rollstuhl saß und fragten mich „Was ist dir passiert?“, „Geht es dir jetzt so schlecht, dass du im Rollstuhl sitzen musst?“. Es bedurfte einiger Anstrengungen, den StudienkollegInnen und ProfessorInnen zu erklären, dass ein Rollstuhl eine tolle Sache ist. Man kommt schnell voran, ist mobiler – und bequem sitzen tut man darin obendrein. Der Rollstuhl wird jedoch von den meisten als das Zeichen für Behinderung gesehen; wer darin sitzt, ist gleich „an den Rollstuhl gefesselt“ und die Lebensqualität wird sogleich in Frage gestellt.  Doch die Lebensrealität behinderter Menschen sieht anders aus: Man ist nicht behindert, man wird behindert! Denn es ist nicht das Problem, im Rollstuhl zu sitzen, das Problem ist vielmehr, dass man ständig auf Stufen, zu enge Türen und nicht zugängliche Toiletten etc. stößt. Es zählt zur Lebenserfahrung eines jeden Rollstuhlfahrers, dass er mit übervoller Blase vor einem WC steht, in das er nicht hineinkommt, weil etwa die Tür wegen des Waschbeckens nicht ganz aufgeht. Behindertengerechtes Bauen heißt menschengerechtes Bauen, denn wer Rampen statt Stufen und Lifte statt Treppen baut, ermöglicht z.B. auch Eltern mit Kinderwägen und älteren Menschen einen leichteren Zugang. Gebäude und öffentliche Verkehrsmittel, die von Beginn an barrierefrei errichtet werden, verursachen kaum Mehrkosten. Bloß nachträgliche Adaptierungen sind sehr kostspielig. So wurde in Wien die U-Bahn nachträglich mit Liften ausgestattet, was kostenintensiv, gesellschaftspolitisch aber dringend notwendig war. Beim U-Bahn-Bau wurde bewusst auf behindertengerechte Zugänglichkeit verzichtet; ursprünglich war RollstuhlfahrerInnen die U-Bahn-Benützung aus feuerpolizeilichen Gründen untersagt – ein Zustand, der durch die steigende Mobilität behinderter Menschen und durch die demographische Entwicklung der Bevölkerung nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Behinderte Menschen sind durch die schulische und berufliche Integration sowie durch die immer besser werdenden Hilfsmittel und neuen Technologien mobiler und damit unabhängiger geworden.  Wir haben in Österreich seit 2006 ein Behindertengleichstellungsgesetz, das vorsieht, dass Neubauten barrierefrei errichtet werden und alte Gebäude und Einrichtungen sukzessive barrierefrei adaptiert werden. Dazu gibt es Etappenpläne für öffentliche Gebäude wie das Parlament, die Ministerien oder die öffentlichen Verkehrsmittel wie Bahn, U-Bahn, Busse oder Straßenbahn. Dieses Gesetz gibt behinderten Menschen die Möglichkeit, auf Schadenersatz zu klagen, wenn sie diskriminiert werden. Die Etappenpläne sehen Übergangsfristen bis 2015 vor. Im Gegensatz zu Deutschland gilt das Behindertengleichstellungsgesetz nicht nur für den öffentlich-rechtlichen Bereich, sondern auch für die Privatwirtschaft. Das heißt, dass auch Restaurants, Geschäfte, Bars oder Diskotheken barrierefrei zugänglich sein müssen, sofern es ihnen aufgrund der Größe zumutbar ist. Wir haben allerdings noch immer Probleme mit den Bauordnungen, die in allen neun Bundesländern unterschiedliche Regelungen vorsehen.  Als sehr positiv erwiesen haben sich die so genannten Schlichtungsverfahren, die einer gerichtlichen Klage vorgeschaltet sind. Das Bundessozialamt lädt alle Beteiligten zu einem Gespräch ein, um bei Diskriminierungen eine einvernehmliche Lösung zu finden. In 50% aller Fälle gelingt das auch. Das funktioniert rasch und man muss nicht auf das Ergebnis langwieriger Gerichtsverfahren warten. In Österreich sagt man „beim Reden kommen die Leute zusammen“ und das wird hier vorbildlich gelebt. Es braucht aber noch mehr Aufklärung und Information, vor allem in der Ausbildung von ArchitektInnen. Es würde den ArchitekturstudentInnen und natürlich auch allen anderen Menschen gut tun, sich einmal in einen Rollstuhl zu setzen und sich auf vier Rädern auf eine kleine abenteuerliche Reise durch die Stadt zu begeben.

Arbeit und Beschäftigung – Vom Recht, etwas leisten zu dürfen

Nach meinem Studium suchte ich einen Job und ging zum Arbeitsmarktservice. Dort erklärte ich dem Mitarbeiter, dass ich gerne Journalist werden möchte und auch flexibel bin, wenn es darum geht, dass ich aufgrund der Arbeit in eine andere Stadt übersiedeln müsste. Der Mitarbeiter betrachtete mich auf meinen Krücken von oben bis unten und sagte dann: „Arbeit haben wir keine für Sie. Aber mit der Behinderung können Sie ohnehin gleich in Pension gehen“. Das wollte ich natürlich nicht. Wozu hatte ich studiert? Leider erzählen mir behinderte Menschen auch heute noch, dass sie anstatt eines Jobangebots ein Pensionierungsangebot bekommen hätten. Auch werden oft sehr junge Menschen, die beispielsweise nach einem Verkehrsunfall querschnittgelähmt sind und im Rollstuhl sitzen, schlichtweg in Frühpension geschickt. Damit tut man behinderten Menschen allerdings nichts Gutes. Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Denn Arbeit bedeutet nicht nur, seinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten zu können, sondern auch, eine Aufgabe im Leben zu haben und sozial integriert zu sein. Ich habe mich schließlich selbst auf Jobsuche begeben und eine Anstellung im Unterrichtsministerium gefunden, wo ich in der Abteilung Medienpädagogik ein Schülerradio aufbaute.

Arbeitgeber sind oft stark verunsichert, ob sie einen behinderten Menschen einstellen sollen. Bringt dieser eine vergleichbare Leistung? Muss das ganze Gebäude umgebaut werden und wie würden die ArbeitskollegInnen reagieren? Die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen ist in Österreich noch immer bedeutend höher als die durchschnittliche Arbeitslosenrate. Es gibt aber zahlreiche Bemühungen des Staates, integrative Arbeitsplätze zu fördern: Wenn ein Gebäude umgebaut werden muss, wird das durch den Staat subventioniert; auch wenn es einen speziellen Computer oder ein anderes Hilfsmittel braucht, wird dies vom Staat finanziert.

Bewährt haben sich außerdem staatliche personelle Unterstützungsangebote, wie Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz, die Mobilitätseinschränkungen ausgleichen. Ich selbst kann beispielsweise nicht am Computer schreiben, diktiere aber meiner Assistentin die Texte, die sie in den Computer tippt. Oder das Jobcoaching, ein Arbeitstraining für lernbehinderte Menschen, damit sie wiederkehrende Tätigkeiten wie kopieren, faxen, oder Unterlagen einordnen systematisch erlernen. Für den Übergang von der Schule in die Berufswelt gibt es ein so genanntes Clearing, wobei nicht die Defizite, sondern die Fähigkeiten der behinderten Jugendlichen ausgelotet und Jobmöglichkeiten aktiv gesucht werden. Dieses Clearing hat sich so gut bewährt, dass es seit Kurzem auch bei Jugendlichen mit Sprach- und Lerndefiziten Anwendung findet.

Modelle, die für behinderte Menschen entwickelt worden sind, können so auf andere Bereiche ausgedehnt werden. Ein großer Erfolg ist auch die „Integrative Berufsausbildung“: In individuellen Lehrverträgen werden die individuellen Ausbildungsziele festgelegt, in Unternehmen erlernen die Jugendlichen die Praxis und in der Berufsschule das dafür notwendige Grundwissen. Diese teilqualifizierten Lehren nehmen bereits über 5.000 behinderte Jugendliche in Anspruch und sie sind ein guter Start ins Berufsleben, da der Unternehmer die Fähigkeiten der Jugendlichen schon während der Ausbildung gut kennenlernt.

Die österreichische Baumarktkette BauMax beispielsweise beschäftigt im Durchschnitt in jeder ihrer Filialen 1-2 Menschen mit intellektueller Behinderung. Das Betriebsklima hat sich verbessert, die MitarbeiterInnen sind an den Herausforderungen gewachsen. In Amerika beschäftigen Firmen bewusst behinderte Menschen als Teil des Diversity. Behinderte Menschen sind genauso KundInnen und um ihre Wünsche und Bedürfnisse kennenzulernen, müssen sie an der Produktgestaltung gleichberechtigt teilnehmen können. Wer als Arbeitgeber bei gleicher Qualifikation einen behinderten Menschen ablehnt, dem entgeht möglicherweise eine engagierte und hochmotivierte Arbeitskraft. In Dänemark, Deutschland und demnächst Österreich werden Menschen mit Autismus bewusst eingestellt, da sie ihre speziellen Fähigkeiten nutzen wollen: konzentrierte Arbeit an Datensätzen und bei der Computerprogrammierung. Dass autistische Menschen vielfach Probleme im sozialen Umfeld haben, spielt da eine unwichtige Nebenrolle.

Selbstvertretung im Parlament – Nichts über uns ohne uns! Nothing about us without us!

2002 wurde ich vom damaligen Bundeskanzler Schüssel eingeladen, als Kandidat für die Österreichische Volkspartei zu kandidieren und Behindertensprecher im Parlament zu werden. Da es eine langjährige Forderung der Behindertenbewegung war und ist, dass die Behindertenpolitik von behinderten Menschen gemacht werden soll, nahm ich das Angebot an. Meine neuen KollegInnen im Parlament waren sehr verunsichert, denn sie hatten es plötzlich mit einem Politiker zu tun, der nicht die Hand schüttelt, mit leiser Stimme redet und bei Buffets unter dem Stehtisch fast verschwindet. Wenn ich im Parlament ans Rednerpult rolle und mit leiser Stimme rede, passiert etwas Erstaunliches: Es wird ganz still im Plenarsaal und man könnte wahrscheinlich die berühmte Stecknadel fallen hören.

Durch meine Präsenz im Parlament erleben meine KollegInnen Tag für Tag wie es ist, mit einer Behinderung zu leben. Vorurteile und Hemmschwellen sind nach und nach abgebaut worden, es gibt heute einen natürlichen Umgang miteinander, wo der Witz nicht fehlen darf. Als behinderter Politiker kann man die Anliegen natürlich authentischer vertreten und weiß meist sehr gut, wo die Betroffenen der Schuh drückt. So ist es in den letzten Jahren doch gelungen, in der Behindertenpolitik einen Paradigmenwechsel anzustoßen: weg von Fürsorge, Almosen und Mitleid hin zu selbstbestimmtem Leben, Inklusion und Gleichstellung.

So konnten einige wichtige Gesetze beschlossen werden:

Anerkennung der Gebärdensprache: Gehörlose Menschen sind nicht taubstumm, sondern haben ihre eigene Sprache, sie sprechen mit ihren Händen. Diese Sprache ist in der österreichischen Verfassung als Minderheitensprache anerkannt.

Persönliche Assistenz am Arbeitsplatz, vom Staat finanziert, ermöglicht es auch behinderten ArbeitnehmerInnen mit höherem Pflegebedarf, mit Unterstützung die geforderte Arbeitsleistung zu erbringen.

Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde ratifiziert, ein Monitoring-Ausschuss zur Überwachung eingesetzt und ein Behindertengleichstellungsgesetz beschlossen.

Eine wichtige Zielsetzung ist ein selbstbestimmtes Leben durch Persönliche Assistenz. Ich habe schon ausgeführt, wie persönliche Assistenz am Arbeitsplatz funktioniert. Persönliche Assistentinnen helfen mir aber beispielsweise auch in der Früh beim Waschen, Anziehen, Essen geben, bei der Pflege meines Tracheostomas, beim Absaugen meiner Atemkanüle. Durch diese Unterstützung kann ich ein selbstbestimmtes Leben inmitten meiner Familie führen und meiner Arbeit nachgehen. Hier ist Österreich aber noch nicht das Land der Glückseligen, es gibt noch Finanzierungs- und Abstimmungsschwierigkeiten mit den einzelnen Bundesländern, die diesbezüglich jeweils unterschiedliche Regelungen haben.

Social Protection versus Inclusion

Zum Schluss möchte ich noch auf die Frage eingehen, ob es eher Schutzbestimmungen oder Inklusion braucht. In meinen Ausführungen habe ich versucht, Ihnen anhand verschiedener Lebensstationen darzulegen, dass es beides braucht.

Schutzbestimmungen und öffentliche Förderungen sind in Österreich zum Beispiel die Mindestsicherung, ein 7-stufiges Pflegegeldsystem, die erhöhte Familienbeihilfe für behinderte Kinder, die kostenlose Gesundheitsversorgung, die Invalidenrente oder Förderungen wie die Persönliche Assistenz. Dieser „soziale Schutz“ ist überhaupt die Basis, ein gleichberechtigtes Leben in allen Bereichen führen zu können, wie es die UN-Konvention vorsieht. Aber gleichzeitig braucht es gesetzliche Regelungen wie das Behindertengleichstellungsgesetz zur Umsetzung von Barrierefreiheit, Handlungsmöglichkeiten gegen Diskriminierungen und für die Schaffung von Chancengleichheit im Freizeit- und Arbeitsbereich.

Schutz und Inklusion sind ein Wechselspiel. In einem gewissen Ausmaß braucht es Schutz und vermehrte Unterstützung – sind Schutz und Fürsorge aber zu stark ausgeprägt, hemmt es die Inklusion und persönliche Entwicklungsmöglichkeiten. Unvorbereitete und unbegleitete Inklusion wäre aber von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dieses Wechselspiel von Behütung und Inklusion braucht eine politische Balance, die im Alltag täglich auf die Probe gestellt und nachjustiert werden muss. Der Schlüssel zu einer inklusiven Gesellschaft, in der behinderte und nichtbehinderte Menschen (und auch andere vulnerable Gruppen) gleichberechtigt leben, ist die Schule.

Es ist wichtig und entscheidend, mehr Bewusstsein für behinderte Menschen und ihre Bedürfnisse zu schaffen, und das so früh wie möglich. Wir dürfen nicht von den Defiziten ausgehen, sondern müssen die Fähigkeiten erkennen, fordern und fördern. Verändern wir das Denken der Menschen durch den direkten Kontakt mit behinderten Menschen! Barrieren müssen in den Gesetzen, aber vor allem auch in den Köpfen abgebaut werden!

Danke für Ihre Aufmerksamkeit & Alles Gute!