Janusz Switaj wollte sterben. Heute ist er mit seinem mobilen Beatmungsgerät in ganz Polen unterwegs, studiert und hilft Menschen in schwierigen Lebenssituationen.

Katowice, im Mai 2015. Ich bin im polnischen Zug auf dem Weg, um Janusz Switaj zu treffen. Seit 2007 bin ich mit ihm in Mailkontakt. Damals las ich in der Zeitung über ihn. Ein Pole, der dafür kämpfte, dass der Arzt sein Beatmungsgerät abschaltet. Mich beschäftigte das sehr, da ich mit den gleichen Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert war, aber dennoch einen starken Lebenswillen empfand. Ich schrieb Switaj ein Mail und er antwortete mir tatsächlich. Er habe, so sagte er, zwei Wochen nach seinem Unfall, mit 18 Jahren, die Entscheidung getroffen, sterben zu wollen. Den Arzt hatte er gebeten, sein Beatmungsgerät auszuschalten. Im „Gegengeschäft“ bot er dem Arzt seine transplantationsfähigen Organe an. Das Geschäft kam damals nicht zustande, aber bis 2008, 15 Jahre nach seinem Unfall, hielt er immer noch an diesem Entschluss fest und kämpfte vor dem polnischen Gericht dafür, dass ihm sein Beatmungsgerät rechtmäßig ausgeschaltet würde. Ich fragte ihn damals in meinem ersten Mail, was passieren müsste, damit er weiterleben möchte und vom Sterbewunsch absehen würde. Er schrieb mir, dass er drei Wünsche hätte: 1. Ein kleines, mobiles Beatmungsgerät, mit dem er sein Bett verlassen könnte (er musste den ganzen Tag im Bett liegen). 2. Persönliche Assistenz, damit ihm ein selbstbestimmtes Leben möglich wäre. 3. Ein Job, damit er eine sinnvolle Aufgabe im Leben hätte. 2014, sechs Jahre später, schrieb ich Switaj wieder ein Mail. Ich war unsicher, ob er überhaupt noch leben würde. Bei mir gehört die Beatmung jetzt zum selbstverständlichen Alltag. Ich bin mit meinem Beatmungsgerät im Rucksack öffentlich unterwegs, halte im Parlament Reden, fliege als EZA-Sprecher durch die Welt und kann ganz bei meiner Familie sein. Nur pfeifen kann der Papa nicht, sagte vor kurzem mein 5-jähriger Sohn.

Ich bekam wieder eine Antwort. Er war am Leben!

Heute sollten wir uns endlich treffen! Am Bahnhof in Katowice war man mit einem Reisenden im Elektrorollstuhl samt Beatmungsgerät überfordert. Die Rampe zum Ausstieg aus dem Zug gab es nicht. Doch der Bahnhof bot auf, was er nur konnte: Acht Bodybuilder der polnischen Bahn standen vor dem schmalen Ausstieg, alle ganz in schwarz gehalten. Trotzdem waren sie mit meinem 200-Kilo-Gefährt überfordert, da so ein Zugausstieg viel zu wenig Platz bietet zum ordentlich Anpacken von allen Seiten. So trugen mich mein Dolmetscher und die Assistentin aus dem Zug, legten mich auf den Boden auf den Bahnsteig und beatmeten mich händisch mit dem Ambubeutel. Unterdessen stellten die Zugbediensteten ihre Muskelkraft unter Beweis und so saß ich schließlich wieder in meinem Gefährt. Dieses Erlebnis war wohl prägend für sie, denn bei der Rückreise gab es plötzlich eine Rampe.

Als ich Janusz Switaj kurz darauf im Bahnhofscafé treffe und ihm von diesem Erlebnis erzähle, lacht er: „Ja in Polen ist das Leben mit Behinderung schwierig. Das beginnt bei der Barrierefreiheit bis hin zum schlechten Sozial- und Gesundheitssystem. So gibt es kaum die Möglichkeit der persönlichen Assistenz“. Wir tauschen uns über die Erfahrungen mit persönlicher Assistenz, die uns ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht, aus. Über Euthanasie will Janusz heute nicht mehr reden. Weder ob er dafür noch dagegen ist. Nach seinem Motorradunfall im 18. Lebensjahr lag er, vom Hals abwärts gelähmt, im Krankenhaus und wurde beatmet. 15 Jahre lang konnte er sein Bett nicht verlassen. Acht Jahre davon lag er auf der Intensivstation, wo neben ihm ständig Menschen starben. Weitere sieben Jahre zu Hause, wo er von seinen Eltern gepflegt wurde. Die 15 Jahre im Bett prägen sein Leben nachhaltig. Er wirkt nachdenklich, wissbegierig und schwärmt von seinem modernen Beatmungsgerät, einem neuen Elektrorollstuhl, den er sich gerne kaufen möchte, und zeigt uns stolz sein neues topausgestattetes Auto. Dieses ist mit Hebelift und Anschnallgurt perfekt auf seine Bedürfnisse abgestimmt.

Janusz Switaj hatte Glück im Unglück. In seinem Leben hat sich alles verändert. Eine Hilfsorganisation hat sich seiner angenommen, ihm ein mobiles Beatmungsgerät besorgt und persönliche Assistenz sichergestellt. Heute arbeitet er selbst bei dieser Organisation und hilft Menschen mit Behinderungen, die sich in so schwierigen Lebenssituationen befinden wie er es damals war.

Im Gespräch mit ihm muss ich immer daran denken, dass, wenn man Janusz damals das Beatmungsgerät einfach abgeschaltet hätte, hätte man ihm diese Lebenschance verwehrt. Es geht nicht um ein selbstbestimmtes Sterben, wie es etwa in den Niederlanden und Belgien durch die aktive Sterbehilfe praktiziert wird, sondern um ein selbstbestimmtes Leben bis zuletzt! Wie das Bespiel Janusz Switaj zeigt, braucht es entsprechende Unterstützung, damit der Lebenswille wieder erwachen kann. Heute studiert er Psychologie, will eine Psychotherapieausbildung machen und eine Abteilung für psychotherapeutische Beratung aufbauen.

Ich frage ihn, ob sein Nachname „Switaj“ eine Bedeutung hat. Er nickt: „Morgengrauen, Tagesanbruch“. Das passt sehr gut zu ihm, sage ich ihm zum Abschied, denn sein Lebensbeispiel macht anderen Mut – neuen Mut in schwierigen Phasen des Lebens.

Wer ist Janusz Switaj?

1993 verunglückte Switaj bei einem Motorradunfall und ist seither halbsabwärts gelähmt und auf ein Beatmungsgerät angewiesen. 15 Jahre konnte er sein Bett nicht verlassen, sah anderen beim Sterben zu und kämpfte für sich für eine Euthanasie-Gesetzgebung in Polen. Die polnische Schauspielerin Anna Dymna wurde auf ihn aufmerksam, gründete eine soziale Stiftung, nahm sich seiner an, und verschaffte ihm durch ein mobiles Beatmungsgerät, einen Elektrorollstuhl und einen Job neuen Lebensmut. Heute studiert Janusz Psychologie. Der Studienort ist 70 km entfernt. Eine Assistentin besucht für ihn die Vorlesungen, nimmt sie auf und bringt die Aufnahmen zu ihm nach Hause, wo sie ihn beim Erarbeiten der Inhalte unterstützt. Seine Biographie hat sich über 60.000 Mal verkauft. Ein guter Start für mehr Unabhängigkeit in seinem Leben, wie er es sich wünscht.