Mit der Zeit entwickelten wir geeignete Formen, um mit dem Problem umzugehen. Zuerst war da der Scherz. Judit nannte mich liebevoll „Schildkröte“. Auch die dünnen Beine begann sie zu lieben. Meinen Rücken nannte sie die „Rocky Mountains. Dieser Humor, der mir ohnehin liegt, tat uns beiden gut. Außenstehende verstanden uns nicht immer. Sie dachten, wir verdrängen alles. Aber das Gegenteil war der Fall. Viele meinten auch, dass Judit ihren „Sozialtrip“ mit mir übertreibe.  Soziales Engagement in allen Ehren, aber muss man da gleich eine Beziehung mit einem Behinderten anfangen? Judit wusste für sich, dass es wirklich Liebe war. Der Druck von außen war beträchtlich. So passierte es, dass wir in der Innenstadt Hand in Hand einkaufen rollten und Judit plötzlich meinte:“Das da drüben war der Karl. Ich habe ihn nicht gerufen. Ich glaube, ich wollte nicht, dass er mich mit dir sieht. Verdammt, ich habe mich für dich geniert!“

Im Laufe der vielen Gespräche gestand mir Judit, dass sie mein Gedicht damals keineswegs auswendig gekannt hatte. Sie hatte es vor sich liegen, als sie es mir am Telefon stotternd vortrug. Unsere Beziehung beruhte demnach auf eine Lüge. Aber trotzdem entwickelte sie sich positiv.

Liebende Nächstenliebe

Es ist Liebe,

sagen die einen.

Es ist Nächstenliebe,

sagen die anderen.

Wir sehen uns an,

im Wissen,

dass wir den uns

Nächsten lieben.